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Deutschsprachige Linguistik: Manipulation versus Bewusstseinsbildung - ein soziokultureller und interkultureller Ansatz

A. Grundlagen

Seit ungefähr zwanzig Jahren führt die Abteilung für deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Notre-Dame de la Paix (Namur, Belgien) Studien im Bereich der Soziolinguistik durch, wobei der Akzent vor allem auf die Rolle der Sprache im Leben des Einzelnen und der sozialen Gruppe gelegt wird. Wir sind dabei von der Hypothese ausgegangen, dass die Sprache sowohl Anhaltspunkt als auch Stützpunkt für die Bestätigung der Identität des Individuums ist, und dass sie den Vermittler zwischen diesem und der Welt darstellt, zwischen ihm und dem anderen, dass sie der Raum ist, in der das Individuum die Welt und sich selbst erfährt. Die Sprache bedeutet den Anfang und die Weiterentwicklung der Weltwahrnehmung für das sprechende Subjekt; durch die Sprache werden soziale Traditionen, Verbote, Regeln und Verhaltensweisen ohne Unterlass weitergegeben und erhalten. Fremd zu sein heißt in gewisser Weise der Gefangene einer Sprache zu sein, die einen Menschen sich selbst gegenüber fremd werden lässt, das heißt als Bevollmächtigter zu leben, sich mit einer Ordnung zu identifizieren, die man nicht selbst erzeugt hat.

Die Ergebnisse dieser Recherchen haben die Überlegungen der interdisziplinären Forschungsgruppe Sprachkompetenz, Schule und Gesellschaft in der Krise genährt, von deren vier Initiatoren drei zur Philosophischen Fakultät gehören. Darüber hinaus haben diese Untersuchungen die theoretische Basis für das Projekt Alphabetisierung und Bewusstseinsbildung im Kivu geschaffen, das von der Europäischen Union und von der Fondation Universitaire pour la Coopération Internationale au Développement/Universitäre Stiftung für die internationale Zusammenarbeit bei der Entwicklungshilfe (1994-2000) mitfinanziert wird. Die Paulo-Freire-Gesellschaft hat ihnen eine große internationale Ausbreitung verliehen.

B. Zukunftsperspektiven

In den kommenden Jahren würden wir die Forschungsarbeit gerne auf die Problematik Manipulation versus Bewusstseinsbildung konzentrieren. Warum haben wir dieses Thema gewählt? Der sprachliche Austausch (Pierre Bourdieu würde vom "Sprachenmarkt" sprechen) ist allgemein kein friedlicher Vorgang, sondern voller Spannungen und Aggressionen. Um dies zu verdeutlichen genügt es, die politische Arena zu betrachten, ein Ort voller Antagonismen, in dem hohe Machteinsätze zum Ausdruck kommen, die bis zum Äußersten mediatisiert werden. U. Windisch schlägt daher mit dem Ausdruck "Diskurs -Strategien" eine Annäherung des Konfliktdiskurses vor, dessen perfekter Prototyp der politische Diskurs ist. Aber, wie es Ruprecht Lay bereits sehr gut gezeigt hat, die Gefahr der Manipulation beschränkt sich nicht allein auf das Feld der Politik. Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereiche sind ebenfalls bedroht.

Auf der anderen Seite kann die Sprache auch Instrument der Bewusstseinsbildung und der Humanisierung sein. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire, dem zu begegnen ich während einiger Jahre des öfteren das Glück hatte, hat nicht nur die theoretische Basis dieser Annäherung gelegt, sondern sie auch in zahlreichen Ländern der Erde in die Tat umgesetzt. Freire betont die Verbindung zwischen Sprache und Realität: "Als Mensch zu existieren heißt, die Welt in Worten auszudrücken, heißt, diese zu verändern. Die in Worten ausgedrückte Welt wird für alle ein lösbares Problem." Seine Methode, vor allem was die generativen Wörter anbelangt, setzt eine besondere semantische Vorgehensweise voraus. Die Bedeutung wird zunächst negativ definiert als etwas, das dem Zeichen nicht inhärent ist. Ein linguistisches Element erlangt seine Bedeutung nur aus einem gegebenen sozio-ökonomischen Kontext. Als solches hat ein Monem (im Sinne von André Martinet) oder ein komplexes Zeichen nur semantische Virtualitäten. Mit anderen Worten, das Zeichen erzeugt bei den Partnern einer Kommunikation nicht eine bereits existierende Bedeutung, sondern führt zunächst zur Übertragung persönlicher Erfahrungen, die mit dem Inhalt des Zeichens verbunden sind. So ist der Prozess der Bewusstseinsbildung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Situation zugleich auch ein Prozess der Semantisierung der linguistischen Zeichen.

Der Prozess der Semantisierung wird durch die soziale, politische, ökonomische und kulturelle Praxis der Benachteiligten konditioniert. Ihre konkrete Situation wird durch eine Deformation in dreifacher Hinsicht charakterisiert:

  • die Deformation der Interaktion, die sich im Antidialog manifestiert;
  • die Deformation durch die Arbeit, die oft einen entfremdenden Faktor für den Menschen darstellt;
  • und schließlich die Deformation durch die Sprache. Tatsächlich sind Unterdrückte Menschen oft ihrer Sprache, ihrer Kultur beraubt.

Diese drei Deformationen sind miteinander verbunden, das heißt, dass die Veränderung eines der drei Elemente, beispielsweise der Deformation durch die Sprache, das Gesamtsystem verändern würde: Es den unterdrückten Völkern zu ermöglichen, sich wieder ihrer eigenen Sprache zu bedienen, bedeutet, sie wieder zu befähigen, an der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Realität aktiv teilzuhaben. Das Ersetzen des Antidialogs durch den Dialog würde zum Beispiel in gewisser Weise die Deformation durch die Sprache beseitigen.

Das Dritte Reich gehört zu den interessantesten historischen Perioden, wenn es darum geht, den doppelten Aspekt sowohl der Manipulation und der Bewusstseinsbildung zu untersuchen. Die Nationalsozialisten haben systematisch versucht, die Sprache in den Dienst der Diktatur zu stellen ("Machtübernahme der Sprache", wie es Siegfried Borck formuliert). Alfred Grosser, den die Philosophische und Literarische Fakultät der Universität Namur bereits im Rahmen seiner großen Vorlesungen bei sich begrüßen durfte, geht davon aus, dass der Nationalsozialismus wirklich eine neue Sprache geschaffen hat, deren Wörter im Französischen keine Entsprechungen haben; man kann die besondere Färbung der unablässlich verwendeten Wörter und Wendungen nicht wiedergeben. Der Vortrag, den ich an der Freien Universität Berlin im Mai 1995 zum Thema Zwischen Kollaboration und Widerstand. Die Haltung der belgischen Katholiken gegenüber dem Faschismus gehalten habe, hat mich dazu gebracht, diese Problematik zu vertiefen. Darüber hinaus hat eine meiner ehemaligen Kolleginnen, Ine Van Linthout, unter meiner Führung eine Untersuchung zum Thema Sprache und Ideologie. Eine soziolinguistische Untersuchung am Beispiel der deutschsprachigen Literatur zu Flandern aus dem Zeitraum 1933-1945 durchgeführt.

C. Prioritäten

In den nächsten Jahren möchte ich meiner Forschungsarbeit verstärkt eine internationale Dimension geben, und zwar in drei Richtungen:

1. Zentralafrika

Das Projekt, dass ich im Gebiet der Großen Seen (siehe oben) durchgeführt habe, hat eine besondere linguistische Komponente. Leider konnte, aufgrund von Effektivitäts-Problemen in dem Gebiet, nur der methodologische Bereich tatsächlich entwickelt werden. Die Forschung zur Alphabetisierung und die Interferenzen der Mündlichkeit in den Völkergruppen der Großen Seen Afrikas: Annäherung und linguistische Vorschläge für die Verbesserung des Lese- und Schreibvermögens (Muhasanya Bil'Umbele) dürfte durch eine soziolinguistische Studie fertiggestellt werden. Dazu würde ich mindestens zwei Aufenthalte in der Gegend benötigen. Als Referenzgebiet habe ich drei Länder der Region der Großen Seen gewählt (Ruanda, Burundi und die Demokratische Republik Kongo) und ein westafrikanisches Land (Senegal).

2. Osteuropa

Für die Erforschung der Problematik Manipulation versus Bewusstseinsbildung bilden die ehemaligen Ostblockländer ein außergewöhnliches Forschungsgebiet, insoweit als viele Linguisten dieser Länder bewusst und ausdrücklich die Linguistik in den Dienst der kommunistischen Ideologie gestellt hatten. Zitieren wir beispielhaft eine Äußerung von Wilhelm Schmidt, einen der anerkanntesten Sprachwissenschaftler der ehemaligen DDR: "Die Differenzierungserscheinungen der deutschen Sprache der Gegenwart in der DDR und in der BRD resultieren zu einem großen Teil daraus, dass die deutsche Sprache der Gegenwart als Objektivation und Vermittlung zweier antagonistischer Ideologien fungiert. Im Sozialismus und im Kapitalismus ist nicht nur die gesellschaftliche Funktion von Ideologie und Politik grundsätzlich verschieden, sondern auch die Art und Weise der politisch-ideologischen Einflussnahme staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen auf die Bevölkerung. Während in der sozialistischen DDR Agitation und Propaganda auf wissenschaftlicher Basis betrieben werden und die Sprache der Politik im Zusammenhang damit einer kontinuierlich fortschreitenden Verwissenschaftlichung unterliegt, ist die Linie der Manipulation der Bevölkerung mit Hilfe der Sprache in der monopolkapitalistischen BRD dadurch bestimmt, dass die Bevölkerung in politischer Unwissenheit gehalten wird und die politische Terminologie wie die gesamte bürgerliche Ideologie in den Dienst der Verschleierung und Verfälschung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihres Bedingungsgefüges gestellt wird." Ich werde mich allerdings nicht auf die ehemalige DDR (beispielsweise die Universitäten von Leipzig und Halle) beschränken, sondern meine Forschungen auf Georgien, Bulgarien Polen und Russland ausdehnen. Es sind bereits Kontakte zu den Universitäten von Saransk, Tbilisi, Burgas, Sofia, Poznan, Rzeszow und Krakau geknüpft worden.

3. Westeuropa

Die Zusammenarbeit wird in Westeuropa, vor allem in Deutschland (Universität Paderborn) und Frankreich (Universität Paris IV, Rouen, Lyon, Straßburg und Corte/Korsika) am einfachsten sein, vor allem da hier bereits seit langem gute Kontakte bestehen. Was Belgien betrifft, so ist eine Zusammenarbeit mit der Universität Lüttich (Professor Jean-Marie Klinkenberg) sowie mit der K.U.L. vorgesehen.