Projekt von A. Bosse
Die Depersonalisierung im Theater, theatralen Diskurs und Drama der Moderne und der Avantgarden in Europa
Der Fokus dieses Projekts liegt auf dem Schauspieler als ‚ältestem’ Material des Theaters, rückte er doch über seine Korporalität ins Zentrum der Retheatralisierungsbewegung. Diese musste allerdings erkennen, dass dieses ‚Material’ mitnichten die erhoffte Authentizität bot, sondern problematisch war. Ist der menschliche Körper nie Natur, sondern schon immer kulturell, sozial etc. kodiert, so ist diese Kodierung im menschlichen Darsteller nochmals verdoppelt: Er präsentiert sich dem Zuschauer immer als konkreter phänomenaler Körper des Schauspielers X wie auch als Zeichenträger der dargestellten Figur. Mit Blick auf die Begründung des Theaters als eigenständiger Kunst war es in der Moderne und bei den Avantgarden vital, im Dienst der jeweiligen theatralen Aussage den Schauspieler durch Depersonalisierung zum ‚perfekten’ Zeichenträger, zum ‚reinen’ Medium zu modellieren. Sein phänomenaler Körper sollte hinter dem semiotischen verschwinden oder, radikaler, ersetzt werden durch eine Kunstfigur. Der Marionette sollte hier eine dreifache Schlüsselrolle zukommen: als konkrete Puppe im Marionettentheater, die, zweitens, als ‚reines Zeichen‘, als rein semiotischer Körper zum ästhetischen Modell der Depersonalisierungsprozesse des Mediums ‚Schauspieler‘ wurde (Ästhetik), und die, drittens, als Metapher für Determinismen der menschlichen Existenz, der conditio humana, fungierte (Anthropologie).
Depersonalisierung und Retheatralisierung wirkten nicht nur umwälzend auf die Konzeption des Theaters, sondern auch auf die des Dramas. Da dies europäische Phänomene waren, die – von Belgien und Frankreich ausgehend (Maeterlinck, Jarry) – Deutschland (Expressionisten, Dadaisten), England (Edward Gordon Craig), Österreich (Hofmannsthal, Kokoschka, Schnitzler u.a.), Italien (Futuristen), Russland (Meyerhold u.a.) und die Schweiz (Dadaisten) erfassten, sind per Vergleichung und Kontrastierung die je spezifischen, oft in lokalen Traditionen verwurzelten ‚Lösungen’ zu berücksichtigen. Um nur ein Beispiel zu geben: Hugo von Hofmannsthal setzte sich einerseits für das innovative Übermarionettentheater Edward Gordon Craigs ein, das auf die Verbannung des menschlichen Schauspielers zielte; andererseits entwickelte Hofmannsthal für seine Dramen andere Depersonalisierungsformen. Als junger Autor, inspiriert von der Wirkungsmacht des Maeterlinckschen Theaters, avisierte er das Puppentheater für z.B. Die Frau im Fenster oder setzte die Allegorie für Der Tor und der Tod ein. Hofmannsthals Weg zur Abstraktion und Depersonalisierung ging über die Vergangenheit, über produktiv historisierende Verfahren. So verband er die depersonalisierende Allegorie mit dem Rückgriff auf die ‚Welttheater‘-Tradition für Das kleine Welttheater (1897), um dies schließlich um das Mysterienspiel Form im Festspielrahmen zu erweitern – so insbesondere im Salzburger großen Welttheater (1921/22).
Theoretisch basieren meine Untersuchungen auf den – anthropologisch fundierten – Körperlichkeits- und Wahrnehmungskonzepten Helmuth Plessners und Maurice Merleau-Pontys, die ergänzt werden durch Helmar Schramms Definition von Theatralität, welche Wahrnehmungsmodus (aisthesis), körperlichen Bewegungsmodus (kinesis) und theatralen Zeichenproduktionsmodus (semiosis) kombiniert. Sie werden ergänzt durch Konzepte der Medialität („starkes Medium“) und Performativität, die es erlauben, den Schauspieler in seiner Doppelfunktion als Material und als Medium des Theaters zu begreifen.
Das Gesamtprojekt stand im Mittelpunkt des Panels Kosmopolitismus und Plurimedialität: Theaterformen der Moderne und der Avantgarden in Europa, das im Mai 2008 auf dem ersten internationalen Kongress des European Network for Avant-garde and Modernism Studies an der Universität Gent (Belgien) angeboten wurde und das der internationalen Vernetzung diente. Die Ergebnisse des Panels sind soeben herausgekommen als Themenheft Plurimedialität. Theaterformen der Moderne und der Avantgarden in Europa der renommierten germanistischen Zeitschrift Études Germaniques (Hg. A. Bosse). Die Erkenntnisse aus diesem Projekt fließen ein in den Forschungsbereich Intertextualité – Interculturalité – Intermédialité der Forschungsgruppe Littérature générale et comparée an der Universität Namur.
Konferenzen, Publikationen
Im Rahmen des Projekts fanden mehrere Konferenzen statt und wurden mehrere Publikationen vorgelegt.